Abbiegen im Schritttempo

Links, uniformierte Polizistin mit Polizeimütze auf dem Kopf und rot-weißer Anhaltekellein der rechten Hand. Sie steht auf der Straße. Auf sie rollt ein weißer LKA mit blauem Logo oberhalb des Führerhauses zu. Ihr Arm mit Anhaltekelle zeigt nach rechts auf einen Parkplatz.
Abbiegen im Schritttempo
Die seit dem 1. Januar 2024 gültige „Fachstrategie Verkehr“ ist so etwas wie die Leitplanke für mehr Sicherheit im Straßenverkehr.
Streife-Redaktion

Für Kraftfahrzeuge über 3,5 Tonnen, die innerorts nach rechts abbiegen, gilt seit der jüngsten Novelle der Straßenverkehrsordnung Schrittgeschwindigkeit. Schließlich führen Abbiegeunfälle zwischen Lkws und Radfah­rerinnen und Radfahrern und/oder Fußgängerinnen und Fußgängern immer wieder zu schwersten Verletzungen oder sogar zum Tod. Unter Schrittgeschwindigkeit versteht der Gesetzgeber wiederum 4 bis 7 bzw. maximal 11 Kilometer pro Stunde.

Der weiße Laster aus Aachen, der gerade mit Schwung den Kreisverkehr in Troisdorf-Spich verlässt, ist ganz offensichtlich deutlich schneller unterwegs. Das sehen (nicht nur) die geübten Augen von Vanessa Göbel und Guido Frackenpohl sofort. Die beiden Polizeioberkommissare vom Verkehrsdienst der Kreispolizeibehörde des Rhein-Sieg-Kreises winken den Fahrer raus. Der ist sich seiner Schuld bewusst, er „sei mit dem Verkehr mitgeschwommen“, sagt er und verweist auf enormen Zeitdruck. „Seit einiger Zeit haben wir diese Art der Überwachungen deutlich intensiviert“, berichtet Göbel, während sie einen der zahlreichen Paketboten anhält, die zwischen den großen Gewerbegebieten in der Gegend unterwegs sind. Ein Informationsblatt mit entsprechenden Hinweisen für die Fahrer hat die 43-Jährige immer dabei. „Damit wollen wir die Aufmerksamkeit für die Gefährlichkeit der Situation noch mal steigern.“ Erste Ergebnisse des erhöhten Kontrolldrucks seien bereits spürbar. „Dank unserer regelmäßigen Einsätze hat sich die Situation deutlich verbessert“, sagt Guido Frackenpohl (35). „Man merkt, dass die Fahrzeuge vorsichtiger unterwegs sind, die Fahrer rechnen mit Kontrollen und achten stärker auf ihre Geschwindigkeit.“

Solche Überwachungen, wie sie im Rhein-Sieg-Kreis und in vielen anderen Polizeibehörden im ganzen Land stattfinden, sind ein Schwerpunkt der neuen „Fachstrategie Verkehr“, die seit dem 1. Januar 2024 gilt. Sie stellt so etwas wie die Leitplanke für die 47 Kreispolizeibehörden in Nordrhein-Westfalen für mehr Sicherheit im Straßenverkehr dar. Entwickelt wurde sie unter der Federführung des Verkehrsreferats im Innenministerium von Polizistinnen und Polizisten, die täglich mit Verkehrsunfällen und ihren Folgen zu tun haben.

Das übergeordnete Ziel aller Maßnahmen: weniger Tote und Schwerverletzte im Straßenverkehr. Dafür wird an zwei entscheidenden Stellen angesetzt: vor und nach dem Verkehrsunfall bzw. -delikt. „Mit der strategischen Neuausrichtung im Verkehrsbereich der Polizei NRW wollen wir Verkehrsunfälle zielgerichtet durch Verkehrsüberwachung und Prävention bekämpfen“, unterstreicht Kerstin Hassel aus dem Referat „Polizeiliche Verkehrsangelegenheiten“ im Innenministerium. Dabei gelte es, vor allem schwache und ungeschützte Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer wirksam zu schützen. „Zudem gehen wir bei Verkehrsunfallaufnahmen, Sachbearbeitung, Ermittlungen und Opferschutz neue Wege. Unser Bestreben ist es, Verstöße konsequent zu ahnden sowie Aggressionsdelikte im Straßenverkehr aufzuklären und zu verhindern.“ Die neue Fachstrategie gibt nach Hassels Worten den „großen Rahmen“ vor. Die Behörden vor Ort können und sollen ihn in ihrem täglichen Dienst mit Leben füllen.

Wie die neue Herangehensweise hilft, zeigt ein Beispiel aus Köln. Dort ist das Verkehrskommissariat 2 für alle Verkehrsunfälle mit Personenschaden im Stadtgebiet Köln/Leverkusen sowie auf den umliegenden Autobahnen zuständig. Ansatzpunkt sind Ermittlungen vor Ort nach Verkehrsunfallfluchten mit Personenschaden. „Tag für Tag bilden zwei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Verkehrskommissariats ein Sonderteam, das im Fall der Fälle ausrückt und die Polizeibeamtinnen und -beamten, die zuerst an der Unfallstelle sind, bei den Außenermittlungen unterstützt“, erläutert Kommissariatsleiter Fabian Golde (41). „Wir befragen Zeugen, sichern Spuren, werten Videoüberwachungen aus, putzen Klinken.“ Die verstärkte (und vor allem frühzeitige) Präsenz soll helfen, die entscheidenden Beweisstücke zu finden, um Straftaten aufzuklären.

Dass diese Theorie in der Praxis funktioniert, hat sich unter anderem vor Kurzem bei einem Einsatz in KölnNiehl gezeigt. Die Ausgangslage: Nach einem Notruf wegen eines Unfalls fanden die Streifenwagen eine schwerverletzte Person vor. Die ersten Angaben von drei Zeugen, einem Busfahrer, einem Sprinter-Fahrer und einer Anwohnerin, waren wenig zielführend. Fabian Golde: „Unser Sonderdienst hat daraufhin noch mal ausführlich mit dem Zeugen-Trio gesprochen. Dabei zeigte sich, dass die Anwohnerin kurz vor dem Unfall ein dumpfes Geräusch gehört hatte. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie einen Mann, der wild telefonierte. Ihre Beschreibung passte genau auf den Sprinter-Fahrer.“ Eine genaue Begutachtung des Wagens ergab anschließend am Unterboden des Sprinters Spuren, die auf einen Unfall hindeuteten. Daraufhin wurde das Fahrzeug beschlagnahmt und der ehemalige Zeuge wurde im Zuge der weiteren Ermittlungen zum Beschuldigten.

„Die neue Strategie spornt uns an, Sofortmaßnahmen zu treffen, rauszugehen, direkt vor Ort unsere Arbeit zu machen“, betont Nina Bonneß, Sachbearbeiterin in Fabian Goldes VK 2 in der Domstadt. Die Unterstützung der Einsatzkräfte komme in den Wachen gut an. „Wir arbeiten eng zusammen, tauschen uns aus, geben uns gegenseitig Anregungen. Nichts motiviert mehr als gemeinsamer Erfolg.“ Die 36-Jährige ist zudem Teil der Ermittlungsgruppe „Quote“ des Verkehrskommissariats. Darin werden alte Fälle von Verkehrsunfällen mit Personenschaden und Fahrerflucht gesichtet, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Bonneß: „Wir schauen uns – neben der täglichen Arbeit – aktuell alle 660 Verkehrsunfälle mit Personenschaden und Fahrerflucht in unserem Einsatzgebiet in 2023 an, um mögliche Qualitätsmängel oder nicht ausreichende Ermittlungen zu identifizieren.“ Bis Ende des Jahres soll auf diese Weise eine Art Handbuch, ein „Werkzeugkoffer“, entstehen, mit dessen Hilfe die Qualität von Unfallaufnahme und Sachbearbeitung – und damit letztendlich die Aufklärungsquote – (noch) weiter gesteigert werden sollen.

Von der Nachverfolgung zurück zur Vorbeugung. In die „Fachstrategie Verkehr“ ist auch die Ampel-Überwachung aufgenommen worden. Mit diesem neuen Schwerpunkt soll nicht nur der Schutz von ungeschützten Fußgängerinnen und Fußgängern, Radfahrerinnen und Radfahrern etc. erhöht werden. Es soll genauso das bei Autofahrerinnen und Autofahrern zuweilen vorhandene Ignorieren von roten Ampeln bekämpft werden. Polizeioberkommissarin Vivien Lamers und Polizeikommissar Michael Gataulin haben sich deshalb mit ihrem Einsatzfahrzeug leicht verdeckt an einer viel befahrenen Kreuzung in Bergisch Gladbach positioniert. Allein die Stadt im Bergischen Land zählte im vergangenen Jahr 16 Rotlichtverstöße mit Unfällen, bei fünf wurden Menschen zum Teil schwer verletzt.

Kaum haben die beiden Beamten des Wach- und Wechseldienstes der dortigen Wache ihr Fahrzeug positioniert, brettert schon ein schwarzer BMW über die „dunkelrote“ Ampel. Der Fahrer weiß sofort, worum es geht. Er habe es eilig, sei zu spät losgefahren, weitere Angaben will er nicht machen. Dem „verkehrsdidaktischen Gespräch“ mit der 28-jährigen Lamers und ihrem Kollegen folgt er eher am Rande. Ob es sich „nur“ um einen normalen oder einen „qualifizierten“ Rotlichtverstoß (bei dem die Ampel länger als eine Sekunde rot war) handelt, wird die genaue Analyse der Handyaufnahme von Vivien Lamers zeigen. Was sofort aufhält: Der „Beifang“ bei einer solchen Ampelüberwachung ist enorm. Innerhalb weniger Minuten kommen eine Frau mit Mobiltelefon am Ohr, ein auf dem Handy tippender Lastwagenfahrer und ein nicht angeschnallter älterer Herr an dem Polizei-Posten vorbei. „Natürlich geht es in erster Linie darum, mit der Bekämpfung von Rotlichtverstößen eine Hauptunfallursache aus dem Verkehr zu nehmen“, betont Vivien Lamers. „Genauso wichtig ist es jedoch, dass wir den Kontrolldruck hochhalten“, ergänzt Michael Gataulin. „Im Straßenverkehr sollte das Gefühl vorherrschen, dass man besser vorschriftsmäßig unterwegs ist, denn sonst drohen Konsequenzen, sprich Strafen.“ Der 24-Jährige hat den Satz kaum beendet, da gibt ein rotes Cabriolet noch mal kräftig Gasund heizt über die Kreuzung. Müßig zu erwähnen: Auto und Ampel haben die gleiche Farbe.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110